An seinem 49. Hochzeitstag treffe ich Herrn Pein in seiner Wohnung. Er erzählt von seiner Hochzeit in der kleinen Kirche mit historischer Orgel in Sambleben am Elm – und der daraus folgenden dortigen 36-jährigen Konzertreihe mit dem Vocal-Ensemble unserer Kantorei. So sind wir mittendrin in seiner vielseitigen Tätigkeit eines verkündigenden Musikerlebens. Doch heute soll es in erster Linie um das diesjährige Turmblasen-Jubiläum gehen:
Lieber Herr Pein, in diesem Jahr feiern wir 60 Jahre Turmblasen – wie fing alles an und wie ging es dann weiter?
Als die Kirche und der Turm geplant wurden, hatte ich die Idee, dass der Turm eine Plattform haben sollte mit Platz für 10 Personen, um die Tradition des “Abblasens von Stükken und Liedern” wieder aufleben zu lassen, wie zur Zeit der Stadtpfeifer. Diese Idee wurde umgesetzt.
Dann kam der Heiligabend 1960, 22 Uhr, der erste Weihnachtschoral erklang vom Turm. Schräg gegenüber in der Eichenallee ging ein Fenster auf und jemand schrie: „Ruhe, ich will aber schlafen!“ Und knallte das Fenster wieder zu. Doch das Turmblasen fand danach in jedem Jahr statt. Als der Turm nach 30 Jahren baufällig geworden war, musste er 1993 abgerissen werden und die Baufirma für den neuen Turm sponsorte ein gleich hohes Gerüst, damit das Turmblasen in dem Jahr stattfinden konnte.
Und nun, nach 60 Jahren strömen immer noch Hunderte in der Heiligen Nacht nach Neu-
Westend und der Kirchturm ist für diese Stunde der Mittelpunkt der Gemeinde. Man trifft sich unter dem Kirchturm und wünscht sich Frohe Weihnachten, trifft alte Bekannte, Freunde und die Gemeinde bietet einen wärmenden Punsch an. Und es ist eine besondere Möglichkeit der Begegnung. Und ein Korb wird heruntergelassen und die Leute haben die Gelegenheit, ein Dankeschön für die Bläser hineinzulegen.
Einmal musste das Turmblasen fast ausfallen, weil es zu kalt war und die kondensierte Luft in den Instrumenten gefror. Also gingen wir in die Kirche und bliesen dort.
Seit Anbeginn findet im Anschluss die Christmette statt – es ist ein „Paket“ und die Menschen gehen danach in den Gottesdienst. Und ich eilte nach den letzten Liedern „Stille Nacht“ und „O du Fröhliche“ vom Turm runter an die Orgel.
Wenn Sie auf die Jahre zurückschauen …
Heiligabend 1953 habe ich zum ersten Mal Christvespern für die Gemeinde gespielt – allerdings in St. Georges. Dort fanden zwei Christvespern statt, weil unser Gemeindesaal so klein ist und nicht alle Menschen fassen konnte. Dann erkrankte der Neu-Westender Organist und ich wurde als Vertretung angefragt und spielte auf dem Harmonium im Gemeindesaal am 14.1.1954 zum ersten Mal in der Eichenallee.
Aus dieser Vertretung wurden dann 57 Jahre. Für mich stand immer der Gottesdienst im Zentrum. Die Musik war für den Gottesdienst geschrieben und da gehörte sie hinein. Und mit am liebsten waren mir das Weihnachtssingen und das Weihnachtsoratorium am 2. Feiertag mit knackevoller Kirche. Und die Gemeinde sang die Choräle vierstimmig mit.
1995, zum 65. Geburtstag, musste ich in den Ruhestand gehen. Dann trat ich in meine eigenen Fußstapfen und wurde mein eigener Nachfolger. Bärbel Bader holte ich gleich zu Beginn meines Ruhestandes für die von meiner A-Stelle übrig gebliebene 1/3 C- Kirchenmusikerstelle ins Boot. Die Zusammenarbeit mit Bärbel Bader war wunderbar, das waren meine glücklichsten Jahre als Kantor hier in der Gemeinde, und die Gottesdienste profitierten enorm davon.
Sie haben so viel für die Gemeinde und die Kirchenmusik getan. Gibt es ein Ereignis, von dem Sie uns erzählen möchten?
Am 14.Oktober 1989 gab meine Kollegin Petra Pfeiffer aus Blumberg (bei Berlin) an der Neu-Westender Orgel ein Konzert. Der Gemeinde war es mit einer entsprechenden Einladung gelungen, für Frau Pfeiffer die Genehmigung dazu bei der Künstleragentur der DDR zu erwirken. Danach verabschiedeten wir uns, beide mit dem unguten Gefühl, uns vorerst nicht mehr wiedersehen zu werden.
Am 11. November gaben unser Vokal-Ensemble und die Bläser ein Konzert in unserer Kirche. Während des Schlussbeifalls kam eine Frau mit einem riesigen Blumenstrauß auf mich zu. Es dämmerte zwar bei mir..., aber “Was nicht sein konnte, das nicht sein durfte “ - etwas zögerlich bat ich sie um ihren Namen: Mit einem Lächeln kam die Antwort: ”Erkennen Sie mich denn nicht? Ich habe doch vor vier Wochen hier ein Orgelkonzert gespielt!” Es war Petra Pfeiffer aus Blumberg! Ich war fassungslos! Dass die Grenze offen war, hatte ich einfach noch nicht verinnerlicht. Ich bat die aufbrechende Gemeinde um ein kurzes Innehalten und erzählte sehr bewegt diese Geschichte und meine unbeschreibliche Freude über diese spezielle schier unglaubliche “Wende”. Darauf gab es für Prau Pfeiffer etwa fünf Minuten Standing Ovations.
Was wünschen Sie der Gemeinde?
Dass das Lob Gottes hier nie verstummen möge und die Verkündigung weitergeht – auf welche Art auch immer.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Manon Althaus